20 Okt. Der Unterschied zwischen Wildpflanzen und Kulturpflanzen

Einst prägten Wildblumen und Wildgräser unsere Landschaften. Über Wiesen, Felder und Wegränder hinweg erstreckten sich farbenfrohe Teppiche aus Wildpflanzen, die nicht nur schön anzusehen waren, sondern auch die Grundlage eines reichen ökologischen Netzwerks bildeten. Vor etwa hundert Jahren waren diese natürlichen Wiesen und blühenden Ackerränder noch ganz selbstverständlich Teil unserer Umgebung. Doch im Zuge der intensiven Landwirtschaft und der Urbanisierung verschwanden sie Stück für Stück, und mit ihnen die Vielfalt, die sie mit sich brachten.
Heute sind Kulturpflanzen auf vielen Feldern zu finden – Pflanzen, die speziell gezüchtet wurden, um bestimmte Eigenschaften zu erfüllen. Sie wachsen z.B. schneller, tragen größere und einheitliche Früchte oder sind resistent gegen Schädlinge.
Doch oft fehlt ihnen das, was die Wildpflanzen so wertvoll macht: die genetische Vielfalt und damit die Fähigkeit, sich immer weiter an ihre Umgebung anzupassen. Wildpflanzen sind nicht das Produkt gezielter Züchtung, sondern das Ergebnis eines natürlichen Anpassungsprozesses, der über Jahrtausende stattgefunden hat. Diese Pflanzen sind genetisch so vielfältig, dass sie in der Lage sind, sich von Generation zu Generation an ihre Umgebung, den Standort und das Klima anzupassen. So können sie z.B. sowohl mit einem extrem heissen Sommer als auch mit einem extrem feuchten Sommer umgehen. Sie tragen zur Stabilität der Ökosysteme bei, denn sie gedeihen in ihren angestammten Lebensräumen, ohne intensive Pflege oder chemische Mittel.
Kulturpflanzen, besonders sogenannte Hybridpflanzen, sind das Ergebnis gezielter Kreuzungen. Diese Züchtungen kombinieren die Eigenschaften zweier unterschiedlicher Elternpflanzen, um gewünschte Merkmale wie Ertrag oder Widerstandsfähigkeit zu maximieren.
Hybridpflanzen mögen auf den ersten Blick vorteilhaft erscheinen, doch sie haben einen großen Nachteil: Sie können sich in der Regel nicht selbst vermehren. Die Samen der Hybridpflanzen tragen nicht die gleichen Eigenschaften wie die Elternpflanze in sich, weshalb sie für die nächste Aussaat nicht geeignet sind. Das bedeutet, dass LandwirtInnen oder GärtnerInnen jedes Jahr neues Saatgut kaufen müssen. Diese Abhängigkeit von wenigen großen Saatgutproduzenten führt dazu, dass die Vielfalt auf den Feldern schwindet und die Kontrolle über die Nahrungsmittelproduktion mittlerweile in den Händen weniger globaler Konzerne liegt.
Ein weiterer entscheidender Unterschied liegt in ihrer Rolle für das lokale Ökosystem: Heimische Insekten sind auf heimische Wildpflanzen angewiesen. Die Evolution hat über Jahrtausende ein feines Netzwerk zwischen Pflanzen und Tieren geknüpft. Viele heimische Bestäuberinsekten sind spezialisiert auf ganz bestimmte heimische Blütenpflanzen. Geht die Wildpflanzenvielfalt verloren, verlieren auch die Insekten ihre Lebensgrundlage. Und mit den Insekten wiederum schrumpft auch die Nahrungsgrundlage für viele Vögel und andere Tiere.
Heute steht nicht nur die Pflanzenvielfalt auf dem Spiel, sondern das gesamte Netzwerk aus Pflanzen, Tieren und Böden. Die Rückkehr von Wildpflanzen in unsere Gärten und auf unsere Felder wäre ein erster Schritt, um diese verloren gegangene Balance wiederherzustellen. Denn Wildpflanzen sind nicht nur ästhetisch ansprechend – sie sind ein wichtiger Teil des ökologischen Gleichgewichts, das wir schützen müssen.
Ein Naturgarten mit Wildpflanzen, ob auf dem Balkon, im Hinterhof oder im Garten, trägt nicht nur dazu bei, diese Vielfalt zurückzubringen. Er schafft auch einen Lebensraum für Insekten, Vögel und viele andere Tiere, die auf diese Pflanzen angewiesen sind. So kann jeder von uns einen kleinen Beitrag dazu leisten, die natürlichen Netzwerke zu bewahren, die seit Jahrhunderten das Fundament unseres Lebens sind.
Seeds of Europe
Sommer 2023: Zwei junge Filmemacher begeben sich auf eine Reise durch Europa, um bei Saatgutherstellern vor Ort zu erfahren, wie entscheidend es ist, die Vielfalt unserer Samen zu bewahren. In dieser berührenden Kurz-Dokumentation kommen die kleinen, oft übersehenen Saatguthersteller und Sammler aus verschiedenen europäischen Ländern zu Wort. Die eindrucksvollen Aufnahmen aus Irland, Luxemburg, Frankreich, Italien, Österreich und der Tschechischen Republik verleihen dem Film eine ganz besondere visuelle Note.
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Ein Film von Lennart Kleinschmidt und Lotta Schweikert.